Historie
Der geschichtliche Ablauf der Auswanderung aus dem Zillertal
Die Anfänge der protestantischen Religion im Unterinntal gehen weit, bis zum Beginn der Reformationszeit, zurück. Die Ideen Martin Luthers kommen über zwei Kanäle in das Zillertal. Zum einen über die Bergknappen, die in Tirol gearbeitet haben, und zum anderen über die Wanderhändler aus dem Tal selbst.
Im frühen 16. Jahrhundert war der Bergbau in Tirol in seiner großen Blüte. Zahlreiche Knappen zogen als Gastarbeiter der Fürsten, später der Fugger, nach Tirol und arbeiteten vornehmlich in Schwaz, Sterzing, Hall und Brixlegg. Viele von ihnen waren aus Sachsen, dem Kernland der neuen Lehren. Der wirtschaftliche Niedergang des Bergbaues, die Bauernaufstände, die Gefolgschaft vieler Tiroler in der Bewegung der Wiedertäufer hatten das öffentliche Leben radikalisiert. Das heißt, die Ausbeutung weiter Bevölkerungsteile wurde deutlicher bewusst und die Forderungen nach Gerechtigkeit - nicht zuletzt von einem religiösen Engagement getragen - wurden unmissverständlich eingefordert.
Zuerst hat sich die evangelische Religion eher im Untergrund verbreitet. Nun aber begannen sich mehr und mehr Gläubige offen zu bekennen. Sie lehnten sich auch, wenn es das Gewissen befahl, gegen die Obrigkeit auf. Obrigkeit und katholische Kirche waren eins. Im Zillertal widersetzten sich viele Protestanten den gegenreformatorischen katholischen Bemühungen.
Man ließ die evangelischen Christen im Zillertal lange Zeit gewähren. Dies hatte verschiedene Gründe. Einer lag darin, dass die "Evangelischen" nicht an die Öffentlichkeit traten. Sie lasen ihre Schriften und Bücher heimlich, Wanderhändler hatten sie mitgebracht. Sie haben sich als Viehhändler, Sensenschmiede, als Handschuh- und Lederwarenverkäufer, als Granatenhändler oder Ölträger das Brot verdient. Dabei sind sie weit, auch in protestantische Lande, gekommen. In Hamburg und Amsterdam gab es sogar Zillertaler-Handelsniederlassungen. Die Bücher haben sie aus dem protestantischen Preußen mitgebracht. Versammlungen fanden also heimlich statt, in der Regel auf entlegenen Bauernhöfen. Nicht alle Sympathisanten haben sich schon öffentlich bekannt. Die Ausrichtung auf die Lehren Martin Luthers im Augsburger-Bekenntnis war nicht einheitlich. Manche tendierten zum Helvetianischen Bekenntnis. Durch so manche Familie ging ein Riss, wenn nur ein Teil den Protestanten zuneigte. Was heute, da sehr viel von Ökumene gesprochen wird, weitgehend problemlos ist, war damals mit manchen Tragödien verbunden. Es gab Missionierungsversuche auch innerhalb der Großfamilien, was nicht ohne Auseinandersetzungen vonstatten ging.
Die Hoffnung der sich allein-gläubig wähnenden Katholiken gingen in die Richtung, dass die „Irrgläubigen“ sich endlich wieder zurückfinden mögen. Das gelang nur bei einigen. Bekannt ist, dass die Zillertaler Protestanten Besuch von ihren Glaubensbrüdern bekommen haben, auch Studenten waren darunter und Handwerker, die die Inklinanten im abgelegenen Tirol im Glauben bestärkt haben.
Am 13. Oktober 1781 erließ Kaiser Joseph II. das so genannte Toleranzpatent (Toleranzedikt). Es war der Mittelpunkt seiner neuen Kirchenpolitik. Nach dem Toleranzpatent haben 1781 ursprünglich nur fünf Personen sich offen zur evangelischen Religion bekannt. „Schlagartig änderte sich diese Situation im Jahre 1826, als unter den evangelisch gesinnten Menschen, die man wegen ihrer ‘Hinneigung zum Protestantismus’ amtlicherseits als ‘Inklinanten’ bezeichnete, im hinteren Zillertal eine Bewegung entstand. Innerhalb von zehn Jahren bekannten mehr als 400 Zillertaler, dem Beispiel der Gebrüder Egger folgend, öffentlich ihren lutherischen Glauben“ (Wolfgang Schmidt/Reinhold Stecher/Karl Berg, 1987, S. 1). Die Sprache des Toleranzpatentes war klar. Trotzdem suchte das Kartell zwischen Behörde und Kirche Möglichkeiten, das Patent zu umgehen. Einer der juridischen Kniffe besagte, dass durch die bayrische Herrschaft - im Zuge der Napoleonischen Kriege - dieses Patent „ex lege“ in Tirol ungültig geworden sei. Es bedürfe einer neuerlichen Proklamierung. Man sprach auch von der Gefahr einer „ungezügelten Gewissensfreiheit“, von “Neuerungssucht“, von “Hochmut“ und “Eigendünkel“.
Hätten sich 500 zu ihrem protestantischen Glauben bekannt, hätten sie - nach den Bestimmungen des Toleranzpatentes - eine eigene Kultusgemeinde gründen können und bleiben können. Die Zahl wurde knapp verfehlt, weil etliche den Drohungen nicht mehr standhalten konnten. Dem war allerdings einiges vorausgegangen. Am 4. Juli 1830 beantragte nämlich Fürsterzbischof Augustin Gruber (zu Salzburg gehörten die Deferegger) beim Tiroler Gubernium, „den hartnäckig auf Trennung Verharrenden zu erklären, dass sie in eine jener k. u. k. Provinzen übersiedeln sollen, wo akatholische Gotteshäuser und Pastoren sind“ (zit. in: Schmidt et al., ebd.).
Kaiser Franz I. hat sich entgegen der Intentionen seines Vorgängers zuungunsten der Protestanten entschieden und das Bittgesuch zur Gründung einer eigenen evangelischen Gemeinde im Zillertal abgelehnt. Der Kaiser hat es aber freigestellt, dass die Zillertaler in eine andere Provinz übersiedeln können, wo es „akatholische“ Gemeinden gibt.
Der Umstand, dass die Inklinanten ihre Bitten nicht zurückgestuft haben (trotz Ablehnung auf Erfüllung beharrten), den Bitten- und Forderungskatalog sogar ausbauten, brachte sie vollends in den Verdacht, „Sektierer“ zu sein. Und auf diese war das Toleranzpatent ohnehin nicht anwendbar.
Am 26. November 1835 erreichte eine Kundmachung des Landesguberniums das Zillertal, das den strengsten Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen anordnete. So war zum Beispiel ein Gutsankauf oder die Annahme einer Pacht nicht mehr statthaft. Auch die Übergabe eines Hofes an den Sohn wurde verboten. Matthias Kreidl musste von seinem Vorhaben, einen Granatenbruch zu übernehmen, zurückstehen...
Als die Protestanten zu spüren bekamen, dass ihre Wünsche unerfüllt bleiben, beantragten B. Heim, J. Fankhauser, J. Stock und J. Gruber die Erteilung von Reisepapieren, um sich in Bayern und in Preußen zwecks Aussiedlung umzusehen. Die Behörden in Zell und in Innsbruck lehnten dies ab, fürchteten um ihre Reputation. Eine Audienz bei Erzherzog Johann - er hatte ihnen am 11. Juli 1835 in Zell eine Vorsprache gewährt - endete enttäuschend. Ein neuerlicher, verzweifelter Versuch, den Kaiser umzustimmen, endete mit der Kundmachung:
„als Katholiken bleiben oder als irreligiöse Sektlinge gehen“. Hoffnungen auf den neuen Kaiser zerstoben. 1837 gab Ferdinand I., der Gütige (!) - er war inzwischen Kaiser Franz nachgefolgt - der Entschließung des Tiroler Landtages nach, 436 Zillertaler Augsburger Bekenntnisses aus dem Land zu verweisen.
Die Bekennenden hatten, nach einem sechswöchentlichen Religionsunterricht und einer anschließenden viermonatigen Frist, um die anstehenden Auswanderungs- und Übersiedlungsgeschäfte zu tätigen, das Land zu verlassen. Die so genannte Hauslehre in einzelnen Weilern - in Stumm gibt es diese Tradition noch - geht auf jene Zeit zurück, da Abtrünnige der Kirche sich bei einem katholischen Priester zu einer religiösen Unterweisung, die sechs Wochen dauerte, melden mussten.
Heute dauert dieser Brauch nur mehr eine Woche. Die Lehre wird in Privathäusern abgehalten. Diese Zwangsbelehrung war ein Ansinnen, das Widerstand hervorrief. Johann Innerbichler sagte jedes Mal vor Unterrichtsbeginn dem Pfarrer: „Du erbarmst mir, dass du umsonst a söche Mühe haben musst. Ich bleib’ wie ich bin, magst sagen, was d’willst...“ (zit. in: Haun, 1985, S. 10).
Nur sieben Inklinanten kehrten zum katholischen Glauben zurück, acht verblieben innerhalb von Österreich. Alle anderen, 393 Protestanten, entschieden sich für die Auswanderung.
Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war zuvorkommend und erklärte sich bereit, Teile seines Landbesitzes im Gebiet von Erdmannsdorf bei Hirschberg - am Rande des Riesengebirges gelegen - zu gerechten Preisen den Zillertalern für einen Ankauf zur Verfügung zu stellen. 34 Gehöfte wurden gegründet, der Großteil in Erdmannsdorf, sechs in Seidersdorf. (Die Alternative zu Schlesien wäre möglicherweise Siebenbürgen gewesen.)
Am 20. Juli 1837 erhielten die Tiroler die verbriefte Zusicherung, sich in Preußen niederlassen zu dürfen.
56 Jahre nach dem Toleranzpatent zogen - zwischen dem 31. August und dem 4. September 1837 - in vier Auswanderungszügen 427 Zillertaler aus ihrer Heimat "in die Fremde".
Elf von ihnen wanderten nach Kärnten und in die Steiermark, 416 nach Niederschlesien aus.
Zuerst ließen sie sich in Schmiedberg nieder, wo sie am 12. November 1837 ihre Aufnahme in die evangelische Kirche feiern konnten. In der Nähe von Hippach stehen auch heute noch drei Linden, die den Ort kennzeichnen, wo sich die Auswanderer zu ihrem traurigen Auszug fanden.
Im Gebiet von Erdmannsdorf (Schmiedeberg) gründeten die Tiroler alsdann ihre Kolonie: „Zillerthal“. Die Ansiedler lebten vor allem von der Milchwirtschaft. Sie verstanden sich unter anderem auf Gartenarbeit und errichteten eine große Flachsgarnspinnerei. 1940 lebten dort noch 3000 Einwohner. Die Gemeinde bestand in ihrer alten Form noch bis 1945 (s. Schmidt et al., 1987, S. 1). 1945/46 mussten die Tiroler ihre Heimat wieder verlassen. Auch die deutschsprachigen Schlesier hatten dieses Schicksal zu erleiden. Sie alle waren ein Opfer des Zweiten Weltkrieges. Der Teil Schlesiens, in dem das Tiroler Dorf stand, wurde Polen angegliedert. Das Tiroler Dorf heißt heute Myslakowice. In dem Dorf sind heute noch Formen der Zillertaler Bauweise zu bewundern.
Der letzte der Auswanderer ist, hochbetagt, 1922 in Schlesien gestorben. Das Gebäudebuch von Hirschberg zählt folgende traditionsreiche Namen als ehemalige Besitzer auf: Fleidl, Brugger, Heim, Rieser, Rahm, Oblasser, Lublasser, Strasser, Schiestl, Kröll, Klocker, Innerbichler, Wechselberger, Kolland, Buchberger, Bair, Geisler, Schönherr, Lechner, Hotter, Hechenpleikner (s. M. Stöckl, 1995, S. 8). Norbert Hölzl zu dieser letzten Protestantenvertreibung in Österreich: „Ein unerfahrener Habsburger-Sprößling auf dem Salzburger Bischofsthron hatte die Protestanten aus dem Zillertal 1837 rechtswidrig ausgewiesen. (...) 150 Jahre später, 1987, entschuldigten sich in Mayrhofen die Bischöfe Berg und Stecher bei den evangelischen Glaubensbrüdern für das einstige Unrecht.
Felix Mitterer schrieb ein ergreifendes Drama (s. o., PS)“ (1995, S. VI). Der evangelische Superintendent Wolfgang Schmidt und die Bischöfe Stecher und Berg schreiben 1987 in ihrer ökumenisch bewegenden Stellungnahme: „Trotz des 1781 von Kaiser Joseph II. erlassenen Toleranzediktes hielt sich in Tirol die Auffassung von der Notwendigkeit, die konfessionelle Einheit des Landes unter allen Umständen zu wahren. Die Bestrebungen der kirchlichen und weltlichen Behörden, keine nichtkatholischen Gemeindegründungen zuzulassen, sind auf diesem historischen Hintergrund zu beurteilen“ (1987, S. 1).
Unter den Auswanderern gab es auch solche, die erst später protestantisch wurden. Sie haben ihre Auswanderung vorerst und erstrangig als einen Protest gegen die Strukturen der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und der Ausbeutung verstanden.
Es ist berichtet, dass etliche der Inklinanten in Preußen 1838 nach Bayern, nach Russland, Polen und Australien weiterwanderten. 54 Zillertaler zogen nach Chile. Nach viermonatiger Schiffsreise landeten 1856 in Puerto Montt - in jenem Ort, wo heute die Panamericana, die in Alaska beginnt, endet - folgende Großfamilien: Klocker, Hechenleiter, Schönherr, Brugger, Fleidl, Kröll, Fankhauser, Heim und Winkler (Norbert Hölzl, 1995, S. VI). Sie haben sich weit im Süden - zwanzig Kilometer landeinwärts - am damals menschenleeren Llanquihue-See (der Name heißt „versunkener Ort“, versunken nach einem Vulkanausbruch) niedergelassen. Ihr Ort heißt Punta de los Bajos. Die polnische Tiroler Kolonie ist ausgestorben, sie leben verstreut in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Die Kolonie in Chile lebt.
Die Tiroler waren gemeinsam mit den ersten Deutschen in das deutschfreundliche Chile von Präsident Manuell Montt aufgebrochen. Der Ort ihrer Ankunft wurde später nach diesem Präsidenten benannt.
Am Llanquihue-See findet sich auf einem Grabstein der Text für eine Auswanderin.
Es ist die im Zillertal geborene Teresa Klocker:
Als Kind in Tirolens Bergesluft
als Jungfrau in Schlesiens Blütenduft
unter Kindern und Enkeln am stillen See
fand sie Ruh' im Land Llanquihue
(zit. in: Haun, 1985, S. 8 und in: N. Hölzl: 1995, S. XII )
Mit freundlicher Genehmigung von Ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger, Innsbruck
Quelle: Prof. Peter Stöger, Eingegrenzt und ausgegrenzt. Tirol und das Fremde.
Zum historischen Umgang mit dem Anderen am Beispiel von Weltanschauungen und Religionen
Anlässlich der Fachtagung vom 6.-8. Nov. 2003 im Innsbrucker Landhaus: "So genannte Sekten, Kulte und Religionsgemeinschaften in Tirol"
____________© 2003____________